Angaangaq bezeichnet sich selbst als Eskimo, und als ich ihn das erste Mal sehe, wie er in traditionellem Gewand, mit einem Fell bekleidet, die große Trommel schlägt und dazu mit seiner tiefen Stimme singt, entspricht er genau dem Bild von einem Eskimo, wie ich es aus Kinderbüchern kenne.Doch wir befinden uns nicht in der Arktis, sondern zu Anfang dieses Jahrtausends in Hannover, wo Politiker wie Ulrich von Weizsäcker und Umweltaktivisten über das Ungleichgewicht des Ökosystems und ihre Folgen für die Menschheit diskutieren. Bewusst hat man Angaangaq als Repräsentanten einer indigenen Gruppe eingeladen, da unter dem Eindruck von Klimaveränderungen und Artensterben Wissenschaftlern und auch einigen Politikern klar geworden ist, dass traditionelle Völker nicht nur Überbleibsel einer vergangenen Epoche sind, sondern dass ihre Art und Weise, im Einklang mit der Natur zu leben, eine Weisheit beinhaltet, die wir im Fortschrittswahn einer fragwürdigen technologischen Entwicklung vergessen haben.
Wanderer zwischen den Welten
Später, beim Empfang, kommt er auf mich zu: Im schwarzen Anzug, die langen Haare zum strengen Zopf gebunden, erkenne ich ihn kaum wieder. Angaangaq ist ein Wanderer zwischen den Welten, der sich im schwarzen Anzug genauso sicher bewegt wie in der Wildnis, wenn er auf die Jagd geht, wie er mir versichert.
Er spricht leise, aber sehr intensiv mit Menschen, schaut jedem dabei direkt in die Augen und – so scheint es mir – auch ins Herz. Denn die jeweilige Person, mit der er spricht, fühlt sich angesprochen, wird weich, und manchmal versteckt sich eine Träne in den Augenwinkeln: Erstaunen darüber, als einzigartig erkannt zu werden in einer Welt, wo vieles beliebig zu sein scheint. Als wir um Mitternacht herausfinden, dass Angaangaq Geburtstag hat und wir ihn hochleben lassen und singen und tanzen, ist er für viele zum Freund geworden.
Noch eine Weile später erzählt er mir von den Völkern im hohen Norden – von der Bedeutung, die sie der Gemeinschaft zumessen, und wie wichtig es sei, in einem gemeinsamen Kreis, wo sich Menschen ins Gesicht sehen und ihre gegenseitige Schönheit wahrnehmen, zusammenkommen, anstatt sich den Rücken zuzukehren und über den jeweils Abwesenden zu lästern. Auf dem Bahnhof in Hannover habe ihm nicht eine einzige Person in die Augen geschaut und angelächelt: Solche Kälte unterscheide sich sehr von der Kälte im hohen Norden. Denn das Eis des Nordens sei leicht zu schmelzen. Das habe ihm seine Großmutter demonstriert, indem sie ihre warme Hand auf den gefrorenen Boden legte. Das Eis in den Herzen der Menschen dagegen sei sehr viel schwieriger zu schmelzen, habe sie dann hinzugefügt und gelächelt.
Aufgewachsen ist Angaangaq in Grönland, und damit ist er auch Däne. Mir fällt erst schwer, das zu begreifen: Dieses riesige Land auf der Nordhalbkugel gehört zum Staat Dänemark und damit zu Europa? Überhaupt stelle ich fest, dass mein Wissen über Grönland und generell über die Arktis sehr beschränkt ist.
Als im 18. Jahrhundert die ersten Missionare, Siedler, Pelzjäger und -händler und Abenteurer in die Arktis kamen, entdeckten die einen ein „primitives“ Volk, das nicht den rechten Glauben hatte und bekehrt -werden musste, und die anderen schleppten es zu Völker-schauen durch halb Europa, um die Ureinwohner Grönlands wie exotische Tiere auszustellen.
So geschehen um 1880, als Zirkusdirektor Hagenbeck mit zwei Eskimo-Familien durch Europa zog, bis schließlich alle nacheinander an Pocken verstarben, weil man nicht daran gedacht hatte, sie dagegen zu impfen. Um diese Zeit müssen auch die Illustrationen von Eskimos entstanden sein, die ich in meinen Kinderbüchern entdeckte.
Es gibt sie noch – die indigenen Völker Grönlands: Angaangaq wuchs in der traditionellen Gemeinschaft der Kalaallit Eskimo auf, die auf eine Jahrtausende alte Tradition zurückblickt. Auf meine Frage, ob der Name Eskimo nicht diskriminierend sei und ob es nicht politisch korrekter sei, von den Inuit zu sprechen, meint er, dass sei zwar im Prinzip richtig, aber ursprünglich seien die Inuit nur ein kleiner Stamm in der großen Gruppe der Eskimo, die als Ethnie die größte Landmasse der Erde bewohnen. Und er zählt mir eine Menge fremdländisch klingender Namen auf: die jeweilige Bezeichnung eines Stamms der Eskimo, die alle eine gemeinsame Sprache sprechen und nicht nur in Grönland, sondern auch in Alaska, in Kanada und in Sibirien zu Hause sind. Der Name Eskimo bedeute „Die, die ihre Nahrung roh zu sich nehmen“, was der Wahrheit entspreche, eine Bezeichnung, die sie ursprünglich von ihren Nachbarn, der Cree Nation, bekommen hätten und die er persönlich deshalb nicht als diskriminierend empfinde.
Wieviele Eskimo denn noch traditionell wie in alten Zeiten leben, will ich von ihm wissen. Nun, gibt er zu: es werden immer weniger, auch deshalb, weil die alten Lebensräume, wo Mensch und Tier gemeinsam miteinander leben konnten, zum großen Teil zerstört sind. Aber das alte spirituelle Wissen der Eskimo kehre ins Bewusstsein der Menschen zurück, denn langsam setze sich die Erkenntnis durch, dass die Menschheit mit einer einseitigen technischen Entwicklung, welche die Natur nur als auszubeutende Ressource betrachte, in einer Sackgasse gelandet sei, die letztendlich sogar das Überleben der Gattung Mensch selbst gefährde.
Politisches Engagement
Das beste Beispiel für die Rückkehr des spirituellen Wissens der traditionellen Völker ist er selbst: Er sei zwar noch in einer kleinen, ländlichen Gemeinschaft in Grönland aufgewachsen, wo die Menschen hauptsächlich von dem lebten, was die Natur zur Verfügung stellte, und seine Kindheit sei noch geprägt worden von dem, was seine Mutter und Großmutter ihm von den alten Lehren ihres Volks erzählt hätten. In der Schule jedoch habe er nicht nur Dänisch gelernt, sondern sei auch mit der sogenannten modernen, zivilisierten Lebenseinstellung konfrontiert worden.
In seinem Studium wird er als europäisches Kind der 60er-Jahre politisch sozialisiert und kämpft für die politischen Rechte seines Volks, die bis heute – in unterschiedlichen Graden – in allen Staaten der Arktis missachtet werden. Betrachtete der alte Kolonialismus die Arktis als Land ohne Volk, aber voll von zu erbeutenden Bodenschätzen, so hat sich daran bis heute nicht viel geändert. Die Arktis ist voller Erdöl und Erdgas und für unsere energiehungrige Gesellschaft ein Eldorado, das es – mehr denn je – zu plündern gilt. Angaangaq wurde zum Aktivisten und Sprecher von indigenen Gruppen, die auf nationaler und internationaler Ebene um ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpfen.
Später ging er nach Kanada und auch in die USA, wo er für die Vereinten Nationen arbeitete. Doch er machte die Erfahrung, dass sich durch die politische Arbeit nichts Wesentliches veränderte, vielmehr wurde ihm bewusst, dass Politik darauf beruht, die Menschen auseinanderzudividieren: Jede politische Gruppe kämpft für ihr Partikularinteresse und verunglimpft die jeweils andere, die als Gegner angesehen wird.
Er konnte in seinem politischen Aktivismus schließlich keinen Sinn mehr erkennen und erinnerte sich an die Lebensweisheiten seiner Mutter und Großmutter und an das spirituelle Wissen seines Volks, das dem Wissen um Naturabläufe und der Achtung vor Mutter Erde entspringt. Sicher könnten wir nicht alle zu einer ursprünglichen ländlichen Lebensweise zurückkehrten, bekräftigt er, aber wir müssten die spirituelle Weisheit der traditionellen Völker mit dem unglaublichen Wissensschatz der modernen Welt verbinden, um eine lebenswerte Zukunft möglich zu machen.
Dabei sei es vor allem wichtig, dass die Menschen sich wieder mehr nach innen wenden, um dort ihren ureigenen Weg zu finden. Denn jeder Mensch habe eine Aufgabe, die er in sich selbst suchen müsse und die nicht von der Gesellschaft diktiert werden solle und könne.
Seine eigene Aufgabe sieht er darin – wie es schon seine Mutter und Großmutter getan haben –, im Sinn eines traditionellen Heilers Menschen zu helfen, sich ihres spirituellen Ursprungs zu erinnern. Was denn das genau bedeute, möchte ich wissen. Der Heiler in der traditionellen Gemeinschaft sei Geschichtenerzähler und Träger der „Qilaut“, einer „Windtrommel“. Mit Geschichten, Gesängen und dem Klang der Trommel, der an einen Herzschlag erinnere, verbinde er die Menschen immer wieder mit ihrem innersten Wesen.
Kulturkreative Gesellschaft
Angaangaq versteht sich heute nicht nur als Botschafter der arktischen Ureinwohner, die ihn zu ihrem Ältesten erkoren haben und deren tiefe Weisheit und Liebe wie auch ihre Freude an den natürlichen Rhythmen der Natur er an alle Menschen weitergeben will, sondern auch als Teil einer kulturkreativen Bewegung, deren Weltbild ebenso durch ganzheitliche spirituelle Erfahrungen geprägt ist. Er ist aktiv in unzähligen Organisationen, in denen sich Menschen zusammengefunden haben, die das alte, materialistisch geprägte Denken in Frage stellen: zum Beispiel im World Wisdom Council des Club of Budapest, eine Initiative des Systemtheoretikers und Philosophen Ervin Laszlo, in dem Wissenschaftler zusammen mit Künstlerinnen und Menschen aus spirituellen Traditionen nach Lösungen für die Menschheitsprobleme suchen, oder auch im Ausschuss für Spiritualität und Religion in den Vereinten Nationen. Und so treffe ich Angaangaq immer wieder auf Veranstaltungen der Zivilgesellschaft: auf dem Kirchentag in Hannover, wo er unter anderem mit der Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai auftritt, um für eine gerechte Welt zu plädieren oder letztes Jahr in Berlin beim Treffen der Initiative „Dropping Knowledge“, wo hundertundzwölf Menschen aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst und Vertreter indigener und traditioneller Gruppen sich auf dem August-Bebel-Platz an einem riesigen runden Tisch versammelten, um 100 Fragen zu den brennendsten Problemen dieser Welt zu beantworten. Da sitzt er dann neben der Menschenrechtsaktivistin Bianca Jagger, dem Filmemacher Wim Wenders, der Maori-Ältesten Pauline Tangiora und dem Physiker Hans-Peter Dürr und vielen anderen, um sich Fragen zu widmen, wie: „Wenn wir soviel Nahrung produzieren, dass wir alle Menschen auf dieser Welt ernähren könnten, warum tun wir das dann nicht?“
„Ja, die Erde produziert genug Nahrung für alle, aber sie wird nicht gerecht verteilt. Menschen sterben in Darfur an Hunger, doch wir tun nichts dagegen.“ Und er erinnert daran, wie überladen die Buffets in seinem Hotel in Berlin seien, während woanders Kinder an Hunger sterben.
In Bad Kissingen auf einer Konferenz mit dem Titel: „Der Neue Geist in der Wirtschaft“ wird er von Prof. Franz-Theo Gottwald eingeladen, von den Leiden seines Volks zu berichten. Angaangaq verweist auf die enorme Umweltverschmutzung der Meere, die dazu geführt hat, dass sich hochtoxische Substanzen in der Nahrungskette angesammelt haben, so dass es den Müttern dort seit Jahren untersagt ist, ihre Kinder zu stillen, da ihre Muttermilch vergiftet ist. Unglaubliche Fakten, die wir kaum zur Kenntnis nehmen, und wenn doch, werden meist nur eine Menge Resolutionen verfasst, die kaum nennenswerte Folgen haben.
Doch Angaangaqs Worte klingen nie wie Anklagen, gegen die man sich zur Wehr setzen muss, sondern erschüttern uns in der Tiefe unseres Herzens, wenn er dann seine große Qilaut-Trommel schlägt und der klagende Gesang eines gequälten Volks uns den Spiegel vorhält, in dem wir uns selbst erkennen.
Seit der Klimawandel in aller Munde ist, wissen auch wir, dass das Eis im Norden so dünn geworden ist, dass Eisbären ertrinken, weil sie die nächste Scholle nicht mehr erreichen. Eine alte Prophezeiung des Volks der Kalaallit besagt, dass wenn das steinharte Eis der Gletscher so weich geworden ist, dass die Hand eines Menschen einen Abdruck darauf hinterlässt, Mutter Erde in Gefahr sei. Dass sich dies noch zu seinen Lebzeiten erfüllen könnte, hat Angaangaq nie für möglich gehalten. Doch schon vor 15 Jahren berichtete ihm jemand aus seinem Volk von einem Rinnsal von schmelzendem Eiswasser am Nordkap in Norwegen. Dieses Rinnsal habe inzwischen die Größe eines Flusses erreicht, und es gäbe auch Berichte von nie gehörten Geräuschen, die von abbrechenden Eisgletschern Zeugnis geben.
„Das Eis schmilzt,“ sagt Angaangaq. „Wir wissen es, wir wissen auch, dass es Überschwemmungen gibt und dass weitere kommen werden, und es wird uns alle betreffen, denn wenn das Eis in Grönland schmilzt und sich diese ungeheuren Mengen Wasser ins Meer ergießen, verändert sich auch das Stromgleichgewicht im Ozean. Der Golfstrom, der Europa ein ausgeglichenes Klima beschert, könnte verschwinden, was vielleicht eine neue Eiszeit zur Folge hätte.“ Vom Klimawandel reden inzwischen alle, Politiker halten Reden, treffen sich auf unzähligen Konferenzen und produzieren eine Menge Papier, doch Angaangaq ist überzeugt: Es geschieht viel zu wenig. Er will, dass die Menschen in den industrialisierten Ländern aufwachen, dass sie in ihren Herzen fühlen, welchen Schaden sie angerichtet haben und immer noch verursachen. „Doch wann wollen sie endlich aufwachen“, fragt er mich und sich selbst. „Wollen sie abwarten, bis die erste Etage ihrer Wolkenkratzer überschwemmt wird oder bis die fünfte erreicht ist?“
Auf das Herz hören
Ob er denn angesichts all dieser schrecklichen Dinge noch Hoffnung habe, frage ich ihn. „Oh ja,“ antwortet er, „ich bin nichts als Hoffnung!“
Seine Mutter habe ihn oft in Kanada besucht, und diese kleine, bescheidene Frau aus einem kleinen Dorf hoch im Norden der Welt habe mit ihrer einfachen Herzlichkeit die Menschen oft zum Weinen gebracht. „Du musst den Menschen eine Chance geben, sich zu verändern,“ habe sie ihm gesagt. „Du musst das Eis in ihren Herzen schmelzen!“ Sie glaubte, dass diese dann ihr ungeheures Wissen endlich weise und zum Wohl aller Menschen und der anderen Lebewesen anwenden würden.
Angaangaq – der Name bedeutet „der Mann, der aussieht wie sein Onkel“ –, ist überzeugt, dass die spirituelle Tradition seines Volks als Botschaft für die gesamte Menschheit wieder an Kraft und Ausstrahlung gewinnen kann. „Die größte Entfernung in der menschlichen Existenz ist nicht die zwischen Nordpol und Südpol, die größte Entfernung ist zwischen dem Verstand und dem Herzen des Menschen,“ sagte einst sein Vater zu ihm. Diese Distanz will er überwinden, versichert Angaangaq und nimmt wieder seine große Windtrommel, die Qilaut, um mit seinem Gesang die Herzen der Menschen zu schmelzen.
Von Farah Lenser
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