Eine Prophezeiung vom Gipfel der Welt erfüllt sich
von Andrea Adarsha Sulzer
Grönland war lange Zeit ein weißes Land. Nur wenige Küstenstriche waren grön, oder eben grün. Es war an einem Wintertag im Jahre 1963, als zwei junge Grönländer bei der Jagd etwas Beunruhigendes feststellten: Ihre Große Eiswand schmolz. Bei einer Temperatur von unter -30 Grad. Unmöglich, dachten sie. Es ist zu kalt. Und doch fielen Tropfen von weit oben auf die beiden hinunter. Zurück im Dorf rannten sie zu den Ältesten. Das Eis schmilzt. Unmöglich, dachten auch sie. Eis kann nicht schmelzen, wenn es so kalt ist. Das Tropfen wurde über die Jahre zu einem Rinnsal, später zu einem Bach. Heute schießt das Wasser aus der Eisdecke, die vielleicht noch halb so dick ist wie vor vierzig Jahren. Grönland wird grün.
Die Prophezeiung
Mutter Erde verändert ihr Gesicht. Von dieser, unserer Zeit erzählt eine alte Prophezeiung.
Die Kalaallit-Eskimo haben sie von Generation zu Generation weitergegeben. Angaangaq, der Schamane, hat sie uns so übermittelt: Die Ältesten sagen: Eines Tages, wenn die Welt es am meisten braucht, kommt das Heilige Feuer zurück zu den Menschen vom Gipfel der Welt. Es ist die Zeit, in der die Bäume wieder aufrecht stehen. Wir werden Feuer aus Holz von Mutter Erde entfachen können und die Tiere, wie die Robben, aus ihrem Dienst entlassen können. Die Ältesten sagen, dass die Art, wie wir den Kalender kennen, zu Ende gehen wird. Was heißt das? Heute kennen wir Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Diese Jahreszeiten wird es nicht mehr geben. Und wenn du fragst, was sein wird, werden sie sagen „niemand weiß es“. Die Ältesten sagen: Viele werden sterben, noch mehr werden kaum überleben, nur wenige werden ein Leben haben. Nur wenn das Eis in den Herzen der Menschen schmilzt, hat der Mensch eine Chance, sich zu wandeln und sein Wissen weise zu nutzen.
Das Feuer kehrt zurück
Am 17. Juli 2009 ist das Heilige Feuer zum Gipfel der Welt zurückgekehrt. 25 Kilometer östlich der Stadt Kangerlussuaq, an der Westküste Grönlands, fand eine dreitägige Zeremonie statt. Sie verkörpert die spirituelle Bedeutung des Klimawandels und ist Ausdruck dafür, dass die Rückkehr des Heiligen Feuers und das Schmelzen des Big Ice Eins sind. Und für mich unbegreiflich – ich war dabei – neben vielen Menschen aus aller Welt, Filmteams und Reportern. Generationen und Generationen vor uns haben sich über diese Zeremonie Geschichten erzählt, haben die Kraft auf der Traumebene gebündelt. Wir haben die Hand nach diesem Traum ausgestreckt und ihn in der gewaltigen Natur Grönlands wahr werden lassen.
Tag 1
Aasivik ist der alte Versammlungsort. In den Sommermonaten haben sich die Familien hier getroffen. Grandmother-Montain liegt weich geschwungen im Süden des Tales. Tundra. Weich und unberührt liegt hier die Erde vor uns. Im Norden der Blackface-Montain. An dieser Stelle beginnt Angaangaq die drei Zeremonietage. Er singt mit seiner Windtrommel. Begrüßt die Kräfte, die Ahnen und bittet um Unterstützung. Sein Leben lang hat er, der Läufer und Schamane seines Volkes, auf diesen Moment hin gearbeitet. Und darum gebeten, dass er die Kraft haben wird, das Heilige Feuer in seine Heimat zurück zu bringen. Vom Blackface-Montain blicken wir auf das Eis. Ein Eismeer, Wellenschlag, Einbuchtungen, hell und dunkel wechseln sich ab. Manchmal meine ich, das Eis bewegt sich. So lebendig wirkt es. Und der Duft. Frisch, frei, würzig-schneeig. Das Eis hat seine eigene Magie. Es hat Stammesälteste und Schamanen aus allen vier Himmelsrichtungen zu dieser Zeremonie gerufen. Menschen, die in absoluter Abgeschiedenheit leben, wie Uniwu und Haru aus dem Amazonasgebiet, haben den langen Weg auf sich genommen, um da zu sein, wenn sich die Prophezeiung erfüllt. Weil auch sie in ihren Traditionen vernommen haben, dass sich die Erde und das Leben auf ihr wandelt. Jetzt. Dass wir durch Ereignisse aus der Natur herausgefordert werden und wir diesen Wandel nur mit einem offenen Herzen weise mitgehen und mitgestalten können.
Mein Zelt steht weit hinten. Jeden Morgen gehe ich über einen schmalen Karibupfad zum Versammlungsplatz. Von Osten glänzt das Eis, lässt mich in Meditation sein, ohne zu meditieren. Im Westen glitzert der See. Ruhig, beruhigend.
Hinter meinem Zelt beginnen die Bäumchen zu wachsen. Büsche sind es eher für meine waldgewohnten Augen. Das erste Mal seit Tausenden von Jahren schlagen die Frauen nun zeremoniell Feuerholz.
Unten bereiten die Männer den Feuerplatz vor. Sie begrüßen die Feuerasche, die von vielen Menschen von überall auf der Welt nach Grönland gesandt wurden. Legen sie als Grundlage und Kraftspende unten in den Firepit. Dann scheint die Zeit still zu stehen. In einer uralten Öllampe bringen die Großmütter und Ältesten Grönlands das Robbenöl. Jahrtausende lang haben diese Tiere den Menschen im Norden Wärme und Licht gespendet. Heute geht diese Zeit zu Ende. Holz von Mutter Erde wird nun die Menschen wärmen. Das brennende Öl gleitet auf das geschlagene Holz. Stille. Als ob die Welt den Atem anhält. Dann Knistern. Ausatmen. Das Feuer ist zurückgekehrt.
Tag 2
Wir hüten das Feuer Tag und Nacht. Singen, Beten, Hören zu oder Träumen mit ihm. Das Feuer hat die Türe geöffnet zu einer neuen Zeit. Grönland wird grün werden, andere Länder werden im Wasser versinken. Wie können wir unser Wissen in dieser neuen Zeit weise gebrauchen?
Vorne am See brennt ein anderes Feuer. Groß und mächtig. Es kocht die ‚Grandfathers’, die Steine für die Schwitzhütte. Großmütter aus allen Ecken der Welt haben sich hier versammelt, um gemeinsam in der Hütte Visionen für die neue Zeit zu empfangen. In Dunkelheit und Wärme beten sie und hören einander zu. Draußen geht ein lauer Wind. Die Ahnen sind da. „Die Zeit verlangt, dass wir unser Öl rein halten. Das gelingt, wenn wir mit reinem Geist und offenem Herzen leben.“ Das ist die Botschaft, die Hansina, Älteste der Kalaallit-Eskimo erhalten hat. Hm, gut, das weiß ich eigentlich schon, denke ich. Nun gehen die Männer in die Schwitzhütte. Sie bitten um Wissen, wie die Vision der Frauen in der Welt umgesetzt werden kann. Ich bin Gatekeeper. Stehe still am Tor der Schwitzhütte. Bin Hüterin. Und die Männer aus Afrika, Asien, Amerika und Europa beginnen zu singen. Sie legen ihre Herzen in jeden Ton. Der Raum um mich herum dehnt sich aus, alles wird Gesang, alles wird Herz. Und eine wilde Hoffnung flammt in mir auf: Wenn wir alle, wie diese Männer in der Hütte, im Herzen miteinander eins sind, dann ist es möglich. Dann ist es wirklich möglich, dass wir wieder zu einer Menschennation werden.
Tag 3
Unruhe und Anspannung liegen in der Luft. Eis und Feuer sollen heute vereint werden: Angaangaq wird das Heilige Feuer auf dem Eis entzünden. Es brodelt überall. Unklarheiten, das Mäandern durch die Tage verstärkt sich. Niemand weiß so richtig, was wann wo geschehen soll. Die Filmteams werden nervös. Heute wird mit Schwenkkameras auf großem Kran gefilmt. Die Einstellungen sind minutiös. Sie haben sich unten am Gletscher eingerichtet und warten, warten schon lange, dass Angaangaq, der Schamane, mit dem Reisigbündel um die Ecke kommt und das Feuer entfacht. Dann steht er unvermittelt hoch oben auf dem Berg. Und singt. Er folgt seiner Zeremonie. Jetzt. Im Moment. Immer wieder neu. Die Kameras müssen warten.
Ich selbst stehe wohl Stunden in einer Art Gleichmut vor dem Gletscher. Soviel Wissen, gespeichert im gefrorenen Wasser, wird hier aufbewahrt und löst sich nun in rasantem Tempo auf. Verteilt sich wieder über die ganze Welt. Das Eis knackt und knarrt. Regelmäßig brechen Stücke ab und hinterlassen im Eis blaue Wunden. Angaangaq bläst in das kleine Feuer und singt. Wai Turoa-Morgan antwortet ihm mit ihrem Lied aus Neuseeland. In diesem Moment scheint sich der ganze Gletscher zu bewegen. Ein riesiges Stück bricht. Eine Welle geht durch uns alle hindurch. Es fühlt sich an, als ob sich die Erde neu ausrichtet.
Auf dem Rückweg zum Camp sammle ich Wolle. Wenn die Moschusochsen hier lang gehen, sich hinlegen oder weiden, bleibt von ihrem dichten Pelz Unterwolle in der Tundra hängen. „Wenn Du diese Wolle hast, musst Du nie wieder frieren“, sagt Angaangaq. Ich esse von der Nuss Grönlands, einem Gras, das nach Pina Colada schmeckt und finde Heidelbeeren. Grönlands Vegetation ist reich. Der gute, nicht ausgelaugte Boden lässt Kräuter mit intensivstem Geschmack wachsen. Das Eis verschwindet, die Winternächte werden noch dunkler werden. Die Pflanzen jedoch kehren zurück.
Nach einer Woche lassen wir das Heilige Feuer ausgehen. Langsam, sachte. Die noch warme Asche verteilen wir in Gläser. Sie reist nun wieder in alle Ecken der Welt – als Grundlage für kommende Feuer.
Das Schmelzen des Eises auf Grönland ist ein dringender Ruf, das Eis in unseren Herzen zu schmelzen. So dass in ihm wieder wilde, saftige und nährende Kräuter wachsen können. So dass wir unser Wissen weise anwenden. Jetzt und in “times and times to come“, wie Angaangaq sagt.